Heilung und Rehabilitation: diesen beiden Worten wird im Sprachgebrauch eine sehr ähnliche, wenn nicht sogar identische Bedeutung zugesprochen – beide nutzen wir, um auszudrücken, dass wir uns von einer Verletzung erholen und zurück zur vollen Funktion finden. Warum es sich lohnt, Heilung und Rehabilitation jedoch zu differenzieren: darum geht es in diesem Artikel.
Es braucht mehr als nur Zeit.
Ich höre oft den Satz: „Aber es ist doch jetzt schon so lange her, dass das passiert ist, das muss doch schon längst ausgeheilt sein!?“
Genau zu diesem Thema fand ich nach dem Urlaub einen Newsletter meiner lieben Kollegin Sabine Meissner in meinem Postfach.
Bei ihr ging es zwar hauptsächlich um den Beckenboden nach der Geburt, dennoch konnte ich mich in Ihren Gedanken zu Heilung und Rehabilitation wiederfinden – sowohl in Bezug auf die Geschichten meiner PatientInnen als auch meine eigenen Erfahrungen.
Wir alle wissen: Heilung braucht Zeit.
Was passiert während dieser Zeit? Das verletzte Gewebe baut sich wieder auf, eventuelle Risse werden geschlossen. Neues Gewebe bildet sich aus, welches anders ist als vorher (z.B. Narben). Das alles läuft automatisch ab, es sind natürliche, biologische Prozesse.
Aber:
Im Alltag brauchen wir mehr als „nur“ heiles Gewebe:
- Es muss belastbar sein – und zwar in alle Richtungen.
- Es muss auch mal mehr als das eigene Körpergewicht aushalten können.
- Es muss flexibel und gleichermaßen stabil sein.
Damit das verletzte Gewebe diese Fähigkeiten wieder erreicht, braucht es mehr als nur Zeit. Es muss trainiert werden, muss Belastung schon während des Heilungsprozesses dosiert erleben und diese Reize integrieren.
Zu einer bestimmten Zeit braucht es bestimmte Reize.
Was das konkret bedeutet?
Ein Beispiel:
Nach einer Operation schließt sich die Wunde und bildet eine Narbe.
Dieses Narbengewebe ist in sich erstmal ziemlich chaotisch. Du kannst es dir vorstellen wir ein knubbeliges Wollknäuel, in dem alle Fäden kreuz und quer verlaufen.
Die Narbe sieht häufig wulstig aus und/oder zieht sich in den Körper hinein. Hier entsteht Spannung – die gewünschte Flexibilität sucht man vergebens.
Wenn wir dem Ganzen „einfach nur Zeit“ geben, ist zwar nachher die Wunde geschlossen, aber das Gewebe bleibt häufig chaotisch und spannungsgeladen. Hieraus entstehen nicht selten Schmerzen, sobald wir wieder anfangen uns normal zu bewegen. Das Gewebe ist plötzlich Zug- und Druckbelastungen ausgesetzt, die es nicht verteilen kann – die Kraft bleibt stecken und setzt sich in Form von Verklebungen und Verspannungen fest.
Es braucht also mehr:
Heilung und Rehabilitation gehen Hand in Hand.
Unterstützen wir die Gewebefasern schon während der Heilung dabei, sich in die Richtung auszurichten, in der sie nachher flexibel auf Bewegungen reagieren können, finden wir besser zurück in die volle Funktionsfähigkeit.
Sanfte Bewegung, gezieltes Training und dosierte Reize – auch am Wundgebiet (sogenannte „Narbenmobilisation“) – helfen, dass sich die Fäden im Wollknäuel ausrichten und der Knoten sich lösen kann.
Die Narbe wird glatt, gut verschieblich und flexibel.
ACHTUNG: Natürlich dürfen wir nicht in die Falle tappen, zu schnell zu viel zu wollen. Denn wenn wir uns in der Heilung noch nicht in der richtigen Phase befinden, führt ein „Zuviel“ schnell zu einem Rückschritt: das Gewebe heilt nicht weiter, eventuell entzündet es sich sogar, Schmerzen können chronisch werden.
Kommt ein Reiz zur falschen Zeit, bleiben wir im Prozess hängen oder werden sogar zurückgeworfen: ein Balanceakt.
Dieser Prozess dauert mitunter deutlich länger, als man denkt.
Faszien- und Bindegewebe (u.a. auch Sehnen und Bänder) zum Beispiel kann – abhängig vom Ausmaß der Verletzung – z.T. bis zu 18 Monate brauchen, bis es wieder zur vollen Belastungsfähigkeit gelangt ist.
In diesem Zusammenhang nicht zu vergessen: die Schonhaltungen, die wir zwangsläufig während eines Heilungsprozesses einnehmen.
Diese können, für sich genommen, auf kurz oder lang Probleme bereiten, wenn sie während der Rehabilitation nicht auch nach und nach abtrainiert werden.
Ein gutes Thema für einen anderen Artikel.

